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Analyse des Polarlicht-Ereignisses vom 20.11.2003

Geschrieben von: Ulrich Rieth <Ulrich.Rieth@uni-mainz.de>
Datum: Montag, 24.11.2003, 18:32 Uhr

Hallo Forum!

In Ergänzung zu dem schönen Bericht von Bernhard Dorner möchte ich hier jetzt meine persönliche Zusammenfassung und Analyse der Ereignisse rund um das jüngste große Polarlicht am 20.11.2003 geben.
Alles begann mit 2 aufeinander folgenden coronalen Massenauswürfen, die sich durch Ihre begleitenden Flares im Röntgenlicht ankündigten.
Unter http://www.sel.noaa.gov/ftpdir/plots/2003_plots/xray/20031119_xray.gif sieht man sehr schön die beiden Maxima im Röntgenfluss am 18.11. gegen 07:52 UTC (M3.2) und gegen 08:31 UTC (M3.9). Dominanter ist natürlich der breite Peak mit seinem Maximum gegen 10:11 UTC (M4.5). Da letzterer aber von der Sonnenfleckengruppe 10508 (ex-10486) am oder hinter dem Sonnenrand aus ging, war von diesem Ereignis nichts zu erwarten.
Das erste M3er Doppelereignis aus einer Position bei N0 E18, also fast exakt in der Mitte der Sonnenscheibe, hatte allerdings zwei 100%ig erdgerichtete coronale Massenauswürfe (CME) zur Folge.
Hierbei wurde die erste Plasmawolke mit einer relativ langsamen Geschwindigkeit ausgeworfen, so dass sie von der zweiten Wolken mit hoher Geschwindigkeit (1175km/s laut Auswertung der Bilder des LASCO Instrumentes an Bord von SOHO, http://lasco-www.nrl.navy.mil/mail/halo_mail/225.html, Bilder des Ereignisses (Flare und CME) sind unter ftp://ares.nrl.navy.mil/pub/lasco/halo/20031118/ einzusehen.) auf ihrem Weg zur Erde sehr schnell eingeholt werden konnte.
In einem solchen Fall spricht man auch von einem Kannibalen-CME. Viele dieser Kannibalen in der jüngeren Vergangenheit hatten meist destruktive Wirkungen auf die Einzelkomponenten, so dass bei Ankunft an der Erde erstmal nicht viel an geomagnetischer Aktivität resultierte. Diesmal jedoch zeigte sich eine fast perfekte konstruktive "Interferenz", was aber im Voraus nicht feststellbar ist/war.
Als berechnete Ankunftszeit wurde vom Solar Terrestrial Dispatch (http://www.spacew.com/) am Vormittag des 19.11. der 20.November gegen 00 UTC angegeben, wobei das Fenster für die Ankuft plus/minus einen halben Tag groß war. Die erwartete Stärke der Schockfront beim Auftreffen des CME auf die Magnetosphäre wurde mit einer Stärke von 5 auf einer Skala von 0-9 angegeben.
Im Prinzip hätte hier jetzt am 19.11. eine erste Vorwarnung erfolgen müssen, was aber leider versäumt wurde.
Am Morgen des 20.11. traf dann innerhalb des vorgegebenen Zeitfensters die Schockfront des Kannibalen-CME um 07:28UTC an den Satelliten SOHO und ACE rund 1.5 Mio km vor der Erde und rund 35 Minuten später an der Magnetosphäre der Erde ein.
Der jetzt beginnende geomagnetische Sturm erreichte zunächst "nur" durchschnittliche Werte, da die Nord-Süd-Komponente (Bz) des interplanetaren Magnetfeldes (IMF) mit -20 bis +10nT eher die üblichen Werte für solche Plasmawolken mit Reisezeiten von rund 48 Stunden aufwies. Mit den gemessenen Geschwindigkeitswerten von rund 700km/s und Dichten zwischen 5 und 10 p/cm^3 war zunächst auch nicht mehr zu erwarten und so war ein Kp-Wert von 6 im ersten 3-Stunden Intervall des Sturms völlig normal.
Was aber ab ca. 11 UTC am 20.11. beobachtet werden konnte, war alles andere als normal, es war wohl ein Musterbeispiel für den Kern einer Plasmawolke eines konstruktiven Kannibalen-CME.
Die Gesamtstärke des interplanetaren Magnetfeldes (Bt) stieg kontinuierlich an und erreichte in der Spitze gegen 14:30 UTC Werte von 56nT. Gleichzeitig richtete sich das IMF extrem in Süd-Richtung aus, was zu einer maximalen Wechselwirkung zwischen interplanetarem und irdischem Magnetfeld führte. In der Spitze erreichte die Bz-Komponente des IMF Werte von -56nT, was mehr als das 11-fache des Normalen darstellte (unabhängig von der Richtung).
Durch diese extrem "günstige" Ausrichtung des IMF wurde auf der Tagseite der Erde das geomagnetische Feld bis weit hinter den geostationären Orbit errodiert. Hiermit wurden die Satelliten in dieser Umlaufbahn (z.B. Astra und GOES) dem direkten Einfluss des Sonnenwindes ausgesetzt. Im Vergleich zum Ereignis von 29.-31.10.2003 handelte es sich diesmal um ein echtes "Abtragen" des Erdmagnetfeldes, während im Oktober der brutale Druck des Sonnenwindes (Geschwindigkeit zwischen 1300-1900km/s bei hohen Teilchendichten) die Magnetosphäre schlichtweg eingedrückt hatte. Diesmal war die Teilchendichte mit Werten von größtenteils unter 10 p/cm^3 und Geschwindigkeiten von rund 600km/s doch eher mäßig.
Als Resultat dieser kontinuierlichen Phase mit extrem südlichem IMF stieg die Stärke des geomagnetischen Sturmes immer weiter an, allerdings nie so weit, dass es nach einer Wiederholung oder gar Steigerung des Ereignisses von Ende Oktober aussah. Hierzu fehlte einfach die Teilchendichte.
Bis etwas gegen 16:30 UTC verharrte die Dichte bei niedrigen 2-3 p/cm^3. Dies zeigte sich wohl auch im Leistungseintrag in das Aurora Oval, der bis zu diesem Zeitpunkt nur Werte von rund 130GW erreichte (www.spacew.com/www/aurvis.gif). Erst nach diesem Zeitpunkt, ab kurz vor 17 UTC machte die Dichte einen deutlichen Sprung nach oben zu Werten um 10 p/cm^3. Dies führte auch sofort zu einer deutlichen Steigerung des Leistungseintrags auf Werte von über 500GW.
Ab jetzt war praktisch klar, dass dieses Ereignis mit den großen Ereignissen im Fleckenzyklus 23 problemlos mithalten konnte, denn auch das IMF war weiterhin mit -40nT extrem südwärts ausgerichtet.
Pünktlich zum Ende der Dämmerung und bereits in der Dämmerung, konnten somit auch erste Polarlichter über Deutschland und der Schweiz gesichtet werden.
Aufgrund der weiterhin exzellenten Werte steigerte sich der Sturm immer weiter (http://www.sec.noaa.gov/ftpdir/plots/satenv/20031121_satenv.gif) und erreichte in der Spitze sogar lokale K-Werte von 9 (http://www.gfz-potsdam.de/pb2/pb23/GeoMag/niemegk/Magnetogram/niemegk_k_e.html und http://www.gfz-potsdam.de/pb2/pb23/GeoMag/Wingst/wingst_k_e.html). Der offizielle Kp-Wert, der sich aus mehreren über den Globus verteilten Stationen zusammensetzt, ist zwar noch nicht raus, aber mein Tipp liegt bei einem maximalen Kp-Wert von 9-, was wiederum in einen geomagnetischen Sturm der Kategorie G4 (Skala G1 bis G5) mündet. Es könnte zwar durchaus auch ein G5 Sturm werden, aber hier muss man einfach noch ein paar Tage bis Anfang Dezember abwarten, dann liegen die offiziellen Werte vor. Nur mal so als Vergleich, am 31.03.2001 hatte das Aurora Oval eine ähnlich weite Ausdehnung nach Süden und auch damals reichte es "nur" zu einem G4 Sturm.
Über Europa und über dem Westen der USA erreichte das Aurora Oval zwischen 21 und 23 UTC seine maximale Ausdehnung nach Süden. Das südlichste Ende des Ovals, also der Punkt an dem Polarlicht noch senkrecht über dem Beobachter zu sehen ist, lag vermutlich irgendwo über Norditalien. Sichtungen von roter Aurora aus Athen, Madrid und Antalya mit entsprechenden Höhenangaben über dem Nordhorizont passen mit dieser Lage sehr gut zusammen.
Damit dürfte es sich bei diesem Ereignis um das am weitesten nach Süden beobachtbare Polarlicht im aktuellen Fleckenzyklus handeln.
Von der Formenvielfalt war dieses Ereignis auch deutlich "besser" als diejenigen von Ende Oktober. Ich schiebe die feineren Strukturen vor allem in den Vorhängen einfach auf die deutlich geringere Geschwindigkeit des Sonnenwindes. Falls hier jemand nähere Informationen hat, die eine Beziehung zwischen der "Feinheit" einer Aurora und der Sonnenwindgeschwindigkeit aufzeigen, so wäre ich über einen Hinweis dankbar.
Nach Mitternacht und früh am 21.11. konnte man dann aber sehr eindrucksvoll sehen, dass bei diesen "langsamen" Sonnenwindgeschwindigkeiten das IMF eine extrem dominante Rolle spielt. Während bei den Rekordgeschwindigkeiten von Ende Oktober locker 6 Stunden mit nördlich ausgerichtetem IMF einfach durch die brutale Wucht des Sonnenwindes weggemacht werden konnten und das Schauspiel einfach weiter lief, führte der Umschwung des IMF in die Nordrichtung diesmal fast zum sofortigen Absterben der Aktivität und das Schauspiel endet schneller als es begonnen hatte.
Insgesamt würde ich sagen, dass dieses Ereignis sicherlich unangefochten (und von mir ungesehen) auf Platz 1 im Fleckenzyklus 23 gesetzt werden kann. Die folgenden Plätze teilen sich dann die Ereignisse vom 30./31.10.2003 und 06.04.2000.
Vom eigentlichen Charakter der Ereignisse dürfte das aktuellen vom 20.11.2003 wohl am ehesten mit dem vom 06.04.2000 vergleichbar sein.
Aber wie wir alle wissen, oder zumindest die, die schonmal Polarlicht mit eigenen Augen gesehen haben, sind einzelne Aurorae prinzipiell nicht miteinander vergleichbar. Es gibt fast immer etwas völlig Neues und auch ausreichend Überrachungen bei der Eintreffwahrscheinlichkeit eines Ereignisses.
Zum Abschluss möchte ich nochmals darauf hinweisen, dass bitte jeder der dieses Top Ereignis sehen konnte, bitte eine Sichtungsmeldung sowohl an den AKM (der dieses Forum betreibt), als auch an das Solar Terrestrial Dispatch (die die Daten für internationale Forschungen sammeln) abgeben sollte.
Wie das geht und was im Einzelnen erwartet wird, habe ich einmal in einem Beitrag nach den Oktober Polarlichtern geschrieben: http://www.meteoros.de/cgi-bin/aurora3/webbbs_config.pl?noframes;read=3293
Hier muss ich aber noch eine Änderung anfügen. Bei der STD Meldung soll beim Eintrag für die Höhe des Polarlichts über dem Nordhorizont entsprechend weiter gezählt werden, wenn das Polarlicht bis nach Süden geht. Hieraus resultieren dann Angaben von Winkeln größer als 90 Grad bis maximal 180 Grad.
Im Übrigen wird es in sehr naher Zukunft auch eine deutsche Formatvorlage zur Abgabe der Sichtungsmeldungen beim STD geben. Bis es aber soweit ist, sollte man sich noch an die oben genannte "Anleitung" halten (mit der Änderung).
Vielen Dank für jede eingereichte Meldung und viel Erfolg weiterhin bei der Suche nach und der Beobachtung des Polarlichts.
Gruß

Ulrich

http://www.ulrich-rieth.de

Beiträge in diesem Thread

Analyse des Polarlicht-Ereignisses vom 20.11.2003 (gelesen: 366) -- Ulrich Rieth -- Montag, 24.11.2003, 18:32 Uhr
NEU: Re: Analyse des Polarlicht-Ereignisses vom 20.11.2 (gelesen: 35) -- jan lameer -- Dienstag, 25.11.2003, 02:01 Uhr
NEU: Here it is... *LINK* -- Thomas Sävert -- Dienstag, 25.11.2003, 11:03 Uhr
Re: Ergaenzung zur Analyse (gelesen: 53) -- Peter Wloch -- Dienstag, 25.11.2003, 00:21 Uhr
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Wahrscheinlich ja... (gelesen: 91) -- Ulrich Rieth -- Montag, 24.11.2003, 20:14 Uhr
Vielen Dank, Ulrich; hab' noch eine Frage... (gelesen: 112) -- Torsten Serian Kallweit -- Montag, 24.11.2003, 19:45 Uhr
Kann ich Dir nicht wirklich beantworten... (gelesen: 93) -- Ulrich Rieth -- Montag, 24.11.2003, 20:05 Uhr
Hier noch der Text für alle *LINK* (gelesen: 93) -- Thomas Sävert -- Montag, 24.11.2003, 19:59 Uhr
Re: Analyse des Polarlicht-Ereignisses vom 20.11.2 *LINK* (gelesen: 94) -- Benjamin, Köln -- Montag, 24.11.2003, 19:17 Uhr
Re: Analyse des Polarlicht-Ereignisses vom 20.11.2 (gelesen: 113) -- Roland Harter -- Montag, 24.11.2003, 19:00 Uhr
Und noch mal der Hinweis zur Polarlicht-Galerie *LINK* (gelesen: 120) -- Thomas Sävert -- Montag, 24.11.2003, 18:59 Uhr

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